Unter den Schienen der Strand!
Sous les pavés, la plage – Unter dem Pflaster ist der Strand!“ – so haben es die Pariser Studenten 1968 verkündet. Damit spielten sie nicht nur darauf an, dass der sandige Untergrund der Stadt sichtbar wurde, wenn man die Pflastersteine als Wurfgeschosse herausriss; sie forderten auch, die gewohnten Dinge und Sichtweisen radikal und in utopischer Absicht in Frage zu stellen. Fraglos haben sie damit zur Änderung der Gesellschaft beigetragen. Was aber, so könnte man heute fragen, ist eigentlich unter dem Strand? Auf den ersten Blick erscheint diese Frage absurd, ebenso wie der in die Jahre gekommene Studentenslogan. Beide aber verweisen auf eine allgemeine menschliche Erfahrung: Sein und Schein fallen auseinander – den Phänomenen wohnt eine Tiefendimension inne, die auf den ersten Blick nicht erkennbar ist und die bisweilen auch erst erarbeitet und entdeckt werden will. Die deutsche Sprache kennt eine ganze Reihe von Metaphern und anderen sprachlichen Wendungen, die auf diese menschliche Erfahrung verweisen. Von der sprichwörtlichen „Spitze des Eisbergs“ reicht die Bandbreite mit vielen Varianten bis hin zu der Aufforderung ganz „tief zu schürfen“, um auf den „Boden der Tatsachen“ zu gelangen. Auch in die Literatur hat die Erfahrung vielfach Eingang gefunden und von dort wiederum den Sprung in die Alltagssprache geschafft. Sprichwörtlich ist „des Pudels Kern“, der sich als Mephistopheles entpuppt und Faust für dessen Suche nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, seine teuflische Hilfe anbietet. Man muss aber „hinter die Fassade“ blicken und „unter der Oberfläche“ suchen, um zu finden, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.
Auch Bahnhöfe machen da keine Ausnahme: Ist ihre Errichtung scheinbar nur von funktionalen und ökonomischen Erwägungen bestimmt, so offenbaren sie ihre wahre Größe erst unter der Oberfläche – sowohl hinsichtlich der Dimensionen als auch in ihrer Bedeutung für das gute Leben der Menschen.
Das gilt auch für den neuen Münchner Hauptbahnhof – als Gebäude und in seiner Rolle als Teil eines städtischen und transeuropäischen Netzwerks. Tausende Menschen hasten jeden Tag durch das Bauwerk, viele hundert arbeiten darin. Viele innerstädtische Verbindungen kreuzen sich über und unter der Erde, aber auch mehrere europäische Magistralen. Eines dieser transeuropäischen Infrastrukturprojekte ist die Eisenbahnachse Paris-Budapest, die nach Ausbau aller Teilstrecken und Bahnhöfe 35 Millionen Bürger auf einer 1500 Kilometer langen Strecke verbinden soll.1 „TEN Projekt 17“ heißt die Achse in der technokratischen Sprache der EU-Kommission.2 Hinter dieser wenig poetischen Bezeichnung verbergen sich funktionale und ökonomische Aspekte, vor allem aber Bilder und Geschichten aus unseren individuellen und einem gemeinsamen kulturellen Gedächtnis: Es handelt sich um eine kulturelle Tiefendimension, die es zu entdecken gilt: Ist auch unter den Schienen der Strand?
Wie aber kann die kulturelle Tiefendimension eines transeuropäischen Netzwerks heute aussehen? Definitive Antworten auf diese Frage geben zu wollen, wäre vermessen. Man kann aber auf relevante Fragen hinweisen. Einige ergeben sich, wenn man eine gedankliche oder tatsächliche Reise auf TEN Projekt 17, einer „Magistrale für Europa“, unternimmt.
TWA Terminal Eero Saarinen, Photo by Acroterion. License: CC BY-SA 3.0.
Paris: Kathedralen des Verkehrs
Die Reise beginnt in Paris und schon mit dem Wort „Reise“ öffnet sich ein weiter Bedeutungshorizont. „Reisen“ hat einen sentimentalen Unterton – man reist nicht mehr. Man fährt oder fliegt, aber immer mit Blick auf ein Ziel. Man verreist nicht mehr, man ist auf dem Weg von a nach b. Man macht keine Reise mehr, man macht Urlaub. Man möchte nicht unterwegs sein, man möchte schnell ankommen. In den Verkehrsmitteln wird alles getan, um vom Zustand des Unterwegsseins abzulenken und die damit verbundenen vermeintlichen Strapazen zu lindern: W-LAN, On-Board-Entertainment, Snacks.
Das alles hat unbestreitbar viele Vorteile: Man verliert keine Zeit, man sieht mehr von der Welt, man kann mehr Meetings besuchen, man muss sich nicht langweilen. Es geht aber auch etwas verloren – etwas, das sich nur schwer in einen geldwerten Vorteil umrechnen lässt. Der Selbstzweckcharakter des Reisens geht verloren. Der eigene Wert, den das Unterwegssein auch nach Berücksichtigung eines Sentimentalitätsvorbehalts hat, bleibt gewissermaßen auf der Strecke. Wir reisen nicht mehr – wir kommen an. Ist das eine Bereicherung oder macht uns das ärmer?
Sollen Bahnhöfe das Abfahren und Ankommen möglichst reibungslos organisieren oder können sie mehr sein: Auftakt und Schlussakkord eines Reiseerlebnisses?
Für fast alle Pariser Bahnhöfe wird man konstatieren müssen, dass es sich um machtvolle Akkorde handelt. Hier wurden Kathedralen des Verkehrs errichtet und sie wurden dementsprechend verherrlicht, von Monet beispielsweise die Gare St. Lazare in einer ganzen Serie von 1877. Schon gegen Ende der 1920er Jahre wird der Blick auf die Pariser Bahnhöfe aber melancholisch-nostalgisch, zumindest bei Walter Benjamin:
„Die Gare St Lazare: eine fauchende, pfeifende Fürstin mit dem Blick einer Uhr. Pour notre homme«, sagt Jacques de Lacretelle »les gares sont vraiment des sines de‘reves.« (Le Reveur Parisien N(ouvelle)R(evue) F(rancaise) 1927) Gewiß: heute im Zeitalter des Autos und Flugzeugs sind es nur sachte, atavistische Schrecken, die unter den schwarzen Hallen noch ruhen und jene abgespielte Komödie von Abschied und Wiedersehen, die man vor dem Hintergrunde der Pullmanncars aufführt, macht aus dem Bahnsteig eine Provinzbühne. Noch einmal spielt man uns das abgelebte griechische Melodram: Orpheus, Eurydike und Hermes auf dem Bahnhof. Im Kofferberge unter dem sie steht, wölbt sich der Felsgang, die Krypta in die sie versinkt, wenn der hermetische Schaffner mit der Signalscheibe, die feuchten Blicke des Orpheus suchend, das Zeichen zur Abfahrt gibt. Narben des Abschieds, die wie der Sprung einer griechischen Vase über die dargehaltenen Leiber der Götter zuckt. [L 1,4]“3
So nimmt es nicht wunder, dass im 20. Jahrhundert Flughäfen die Rolle der Kathedralen des Verkehrs übernehmen. Zu Beginn des Jahrhunderts schwärmten Futuristen wie beispielsweise Antonio Sant’Elia von der Geschwindigkeit der stromlinienförmigen Flugzeuge und schon 1935 illustrierten Postkarten Zukunftsvisionen von Stuttgart im Jahre 1940 mit Flugzeug-Parkplatz, Raketenflugzeug-Haltestelle und Zeppelin-Bahnhof.
Einen mächtigen baulichen Ausdruck hat der Flughafen als Kathedrale des Verkehrs auch im TWA Flight-Center von Eero Saarinen von 1962 gefunden. Die Zukunft des 20. Jahrhunderts gehörte den Flugzeugen. Warum aber spricht man hier von Kathedralen des Verkehrs? Zum einen ganz schlicht wegen der Größe der Bauwerke und ihrer im Wortsinn herausragenden Baumassen. Zum anderen aber, weil sie in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft in gewisser Weise die metaphysische Funktion einer Kathedrale übernommen haben. Die Kathedrale hat ihre Bezeichnung von der dort vorhandenen cathedra, dem Bischofssitz. Damit war sie immer ein Machtzentrum in weltlicher, aber auch ein Gravitationszentrum in spiritueller Hinsicht. Das, was eine Stadtgemeinde jenseits des individuellen Strebens nach Glück einte, wurde durch Kathedralen in besonderer Weise symbolisiert: Ein religiöser Glaube mit entsprechenden Vorschriften und Heilsversprechen.
Ein Zitat des Philosophen Ludwig Wittgenstein verdeutlicht diesen Aspekt. Er schreibt ca. 1947:„Architektur verewigt und verherrlicht etwas. Darum kann es Architektur nicht geben, wo nichts zu verherrlichen ist.“4 Wenn Bahnhöfe oder Flughäfen als Kathedralen des Verkehrs bezeichnet wurden und bisweilen immer noch werden, dann deshalb, weil sie einerseits eine Machtdemonstration (der Staaten aber auch von wirtschaftlich potenten Bürgern) sind, andererseits aber auch, weil sie ein Versprechen auf die Zukunft beinhalten, das Menschen vereint und Gemeinschaft stiftet. Es ist das Versprechen von Modernität, wirtschaftlichem Aufschwung, Verbindung und Vereinigung von Ländern (im 19.Jahrhundert mit Blick auf die Idee eines Nationalstaats, im 20. Jahrhundert mit Blick auf eine weltweite Vernetzung). Es ist auch das Versprechen der Teilhabe an einer wirtschaftlich prosperierenden modernen Welt. Es ist die „Verherrlichung“ einer Idee.
Im 21. Jahrhundert mutet es seltsam an, bei Bahnhöfen noch von Kathedralen des Verkehrs zu sprechen. Warum? Welche Gebäude sind heute „Kathedralen“? Museen, Konzerthäuser, Stadien? Was muss ein Bahnhof haben, um zur Kathedrale des 21. Jahrhunderts zu werden? Was kann eine Gesellschaft jenseits des individuellen Strebens nach Glück heute zusammenhalten? Und, wenn sich ein solches gemeinsames Gut tatsächlich noch ausmachen ließe sollte, wie kann es sich in einem Bahnhof wiederfinden? Was kann ein Bahnhof heute jenseits von Konsum und Mobilität symbolisieren? Wie kann er zu einem Gravitationszentrum aus metaphysischer Sicht werden? Was soll ein Bahnhof im 21. Jahrhundert verherrlichen?
Claude Monet, Gare Saint-Lazare, Ankunft eines Zuges, Öl auf Leinwand, 1877
Straßburg: von der Fragilität der Verbindungen
Wir verlassen Paris. Der Weg führt nach Osten, zunächst durch die Banlieus und dann vorbei an endlosen Ackerflächen, zwischen denen nur hin und wieder kleine Ortschaften auftauchen. Der Zug rast auf zwei schmalen eisernen Linien dahin und bringt mit über 300 km/h in Windeseile Kilometer für Kilometer hinter sich. Die Schienen haben, wie die der meisten mitteleuropäischen Eisenbahnen, eine Spurweite von 1435 mm. Diesem Maß steht bei der europäischen Magistrale eine Strecke von 1.500 km gegenüber. Anders gesagt 0,001.435 km zu 1.500 km bzw. 1435 mm zu 1.500.000.000 mm. Zum Vergleich: 30 cm lange menschliche Haare müssten ca. um den Faktor 250 dünner sein, als sie es sind, um das gleiche Länge/Breite-Verhältnis zu erreichen. Das Europa verbindende Netz ist dünn, erstaunlich dünn. Und es ist verletzlich, genauso wie die freundschaftlichen Bande, die nach 1945 zwischen den europäischen Staaten gewachsen sind. Das macht sowohl die Pflege der Freundschaften als auch die Wartung der Strecke zu einer permanenten Aufgabe.
Besonders deutlich wird dies in Straßburg, der Stadt, die sich als Hauptstadt Europas versteht. Dieses Selbstverständnis hat mit den zahlreichen hier vertretenen europäischen Institutionen zu tun, vor allem aber ist es die lange und oft leidvolle Geschichte zwischen Frankreich und Deutschland, die Straßburg als europäische Stadt par excellence auszeichnet. Hier kann man sehen, wie wenig selbstverständlich das Funktionieren eines grenzüberschreitenden Netzwerks ist – und wie wertvoll.
Ein Dokument des politischen Ringens um Straßburg ist der Bahnhof. 1883 wurde der vom Deutschen Kaiserreich vor allem aus mili-tärischen Gründen initiierte Bau eingeweiht und blieb über hundert Jahre nahezu unverändert, bis er im Jahr 2007 mit einem gewölbten Glas Vorbau „eingehaust“ wurde. Das alte Gebäude erhält dadurch etwas von einem Ausstellungsstück. Vielleicht eine passende bauliche Metapher: Es ist nötig sich an die Geschichte zu erinnern, um die Gegenwart schätzen zu können.
Straßburg, neuer Bahnhof. Photo by DAVID ILIFF. License: CC BY-SA 3.0.
Stuttgart: nachhaltige Emotionen
Von Straßburg brechen wir auf in Richtung Stuttgart und steuern einen Bahnhof an, der genau wie der, aus dem wir kommen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts für ebendieses mit einem gigantischen Bauprojekt fit gemacht werden soll. Der Kopfbahnhof mit dem von Paul Bonatz von 1914 bis 1928 gebauten Empfangsgebäude wird dabei in einen Durchgangsbahnhof verwandelt, bei dem die Schienen unterirdisch und orthogonal gedreht zu den bisherigen verlaufen. Der sogenannte Bonatz-Bau bleibt zumindest in Teilen erhalten und wird durch eine unterirdische Gleishalle ergänzt.
Bekanntermaßen war und ist das Projekt umstritten, wie vermutlich kein anderer Bahnhof in Europa. Der Konflikt entzündete sich zwischen zwei sehr unterschiedlichen Zukunftsvisionen: Einerseits eine kompromisslos auf die Zukunft ausgerichtete Neugestaltung und andererseits ein Festhalten am Bewährten mit nur sanften Veränderungen. Die Vor- und Nachteile beider Visionen kann man sich unschwer vorstellen: Die radikale Umgestaltung bietet eine, wie es so schön heißt, „verkehrstechnische Optimierung“ aber eben auch hohe Kosten und hohe Risiken. Bei der sanften Umbauvariante ist alles ein Stück kleiner: die angestrebte Optimierung ist dann eben nur eine Verbesserung und Kosten und Risiken nicht so hoch. Nach langen und intensiven Auseinandersetzungen hat man sich auf einen Kompromiss geeinigt und baut. Unabhängig vom Ausgang des Streites und der Qualität der gefundenen Lösung bleiben zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen die immense emotionale Reaktion, die Stuttgart 21 als ein vermeintlich nur anhand nüchterner Zahlen zu bewertendes Infrastrukturprojekt hervorgerufen hat. Verständlich ist diese nur, wenn man die, bereits erwähnten tieferen Dimensionen einer Bedeutung für das gute Leben der Menschen, die Bahnhöfen und Schienennetzen innewohnen, berücksichtigt. Zum anderen ist auffällig, dass im Konflikt um die Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart von beiden Seiten mit Verweis auf die größere Nachhaltigkeit der eigenen Vorstellungen argumentiert wurde. Tatsächlich gehört die Forderung nach Nachhaltigkeit heute zu den Standardforderungen, die an Architektur und Stadt gestellt werden und sie gilt zumal für große Infrastrukturprojekte. Nachhaltigkeit ist eine in Raum und Zeit ausgeweitete Gerechtigkeitsforderung. Es geht nicht mehr nur darum, ein direktes Gegenüber gerecht zu behandeln; unser Handeln soll auch gerecht gegenüber den Interessen nachfolgender Generationen und gerecht gegenüber Menschen auf der ganzen Welt sein, die unmittelbar oder mittelbar von unserem Handeln betroffen sind. Es stellt sich allerdings die Frage, wie dieses abstrakte ausgeweitete Gerechtigkeitsideal umgesetzt und konzeptualisiert werden kann. In den 90er und 10er Jahren wurde in der Architektur dafür vielfach das Säulen-Modell propagiert, gemäß dem unser Handeln gleichermaßen auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene zukunftsverträglich sein soll. In der Umweltethik wurde dieses Modell wegen offensichtlicher Mängel (die Gleichwertigkeit der Ebenen ist nicht gegeben: Ökonomie ist Teil des Sozialen und dieses ist von einer funktionierenden Ökologie abhängig) kritisiert und durch andere Vorstellungen ersetzt, zum Beispiel durch das so genannte Leitplanken Modell. Demnach sind Effizienz, Resilienz und Suffizienz als „Leitplanken unseres Handelns“ für einen nachhaltigen Lebensstil wichtig. Für die Architektur bedeutet das eine Verschiebung der Aufmerksamkeit. Der effiziente Einsatz von Ressourcen sollte heute auch im Bereich der Architektur weitgehend eine Selbstverständlichkeit sein.
Daneben ist aber auch die Resilienz, also die Systemstabilität (bzw. die Fähigkeit des Systems Gebäude mit Störungen umzugehen), von entscheidender Bedeutung für eine langfristige Nutzung von Architektur.
Und auch die Frage nach einem angemessenen Lebensstil muss im Kontext der Architektur gestellt werden, auch wenn damit heikle moralische und politische Probleme, die die Freiheit des Einzelnen betreffen, verbunden sind.
In jedem Fall haben die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 aber gezeigt: Die Gestaltung von Bahnhöfen ist heute immer noch im innersten Kern die Frage nach einem angemessenen Lebensstil. Und es ist eine Aufgabe, die Menschen fundamental angeht, bewegt und emotional aufwühlt. Daraus ergibt sich zumindest der Imperativ einer sorgfältigen und qualitätvollen Gestaltung, die sich nicht in der Erfüllung funktionaler Aspekte erschöpft.
Wir verlassen Stuttgart in Richtung München und erklimmen die Schwäbische Alb über die legendäre Geislinger Steige. Dank der spektakulären Ausblicke und der gedrosselten Geschwindigkeit ist dies selbst im modernsten ICE oder TGV ein geradezu nostalgisch romantischer Eisenbahnmoment. Ein Moment jedoch, der in wenigen Jahren auf der Magistrale für Europa nicht mehr zu erleben sein wird. Statt mit 70 km/h über den Berg, werden die Züge dann mit 250 km/h durch einen Tunnel rauschen. Schönheit geht verloren, Zeit wird gewonnen.
Stuttgart 1940, Postkarte ca. 1935
München: Für wen wird gebaut?
Auch in München kommt der Reisende auf einer Baustelle an. Es entsteht ein neues Empfangsgebäude mit Anschluss an die vorhandene und eine neue S-Bahn-Röhre. Mit letzterer wiederum werden die bestehenden Tunnel für U-Bahnen ergänzt und die zahlreichen oberirdischen Verbindungen von Trambahnen und Bussen komplettiert. Alles in allem ein immenser und immens komplexer Eingriff zur Optimierung des Verkehrsflusses am Knoten München. Bauherr des Münchner Bahnhofs ist die Deutsche Bahn. Aber ist es nicht auch die Gesellschaft, die hier baut? Nicht, weil die deutsche Bahn im Besitz des Bundes ist, sondern, weil Bahnhofsgebäude in ihrer Bedeutung viel größer sind als die Summe der funktionalen Aspekte. Ist es vielleicht das, was in Stuttgart vergessen wurde? Wenn aber Bahnhöfe nicht nur für eine Verkehrs-Gesellschaft, sondern für die Gesellschaft gebaut werden, haben dann nicht Bauherr und Architekt auch ihr gegenüber Verantwortung? Geht es nur darum, 20.000 oder 30.000 Körper pro Stunde im Trockenen und möglichst schnell von A nach B zu bringen, oder geht es um mehr? Womöglich sogar um viel mehr? Was kann ein Bahnhof heute zum guten Leben beitragen? Muss ein Bahnhof nicht auch Reiseerlebnisse ermöglichen mit poetischen Momenten, Begegnungen, Gesprächen und ästhetischen Erfahrungen? Und selbst, wenn er das tut, reicht das aus? Sollte es nicht auch darum gehen, eine gebaute Idee zur Zukunft der Gesellschaft zu formulieren? Im 19. Jahrhundert war das der Fall, aber heute? Bisweilen scheint es, als habe die Architektur zwar vielleicht noch nicht die Kraft zur Sorge um den Einzelnen aber doch die Kraft zur Formulierung gesellschaftlicher
Visionen verloren. Kann ein Bahnhof hier etwas ändern? Kann ein einzelnes Gebäude etwas ändern? Ist es nicht eigentlich die Sorge um den Einzelnen und um die Gesellschaft auf die es in der Architektur ankommt?
Hauptbahnhof München, Starnberger Flügelbahnhof, Vorplatz, Auer Weber
Wien: Neue Wege
Schon seit 2015 hat Wien, die nächste Station der Magistrale, einen neuen Bahnhof. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt fungiert dieser als Hauptbahnhof und damit als zentraler Verbindungspunkt für den Fernverkehr. Hier wurden Wege verändert und neu geschaffen. Man nähert sich der Stadt anders, man verlässt sie auf neuen Routen. Mit neuen Wegen ändern sich auch die Bilder. Es sind jetzt neue Bilder, die sich die Einwohner und die Besucher von Wien und sich selbst in Wien machen. Das ist keine Lappalie, insbesondere nicht in Hinblick auf das kulturelle Gedächtnis und die Identität einer Stadt. Wolfgang Meisenheimer hat die Bedeutung von Wegen für Menschen und Architektur folgendermaßen beschrieben:
„Es ist die Raum und Zeit verbindende Struktur der Wege und Wegsysteme, die seit Jahrtausenden das leben- und kulturzeugende Potential der Architektur in Erscheinung treten lässt. Die linearen Verknüpfungen der Orte sind ja nicht nur als szenische Darstellungen des Vertrauten lesbar, als geronnenes Material vergangener Zeit, sondern auch als Handlungsanweisungen und Zeichenvorrat, angelegt zur Eroberung einer unbekannten, erst noch zu leistenden Zukunft. Die großen Städte können – wie alles Gebaute – als Kristallisationen spezifischer Kultur an Wegen und Straßen, Bahnstrecken und Flugschneisen verstanden werden. Die gebauten Dinge sind ihrerseits durchsetzt von Wegen, Fluren, Treppen, Durchgängen, Schwellen und Brücken –, also in Architektur übersetzten Elementen jenes topologischen Systems, das Wahrnehmungsraum, Gesellschaftssystem, Zivilisation, alles in allem die räumliche Ausbreitung des Lebens strukturiert. Sind doch die organischen Abläufe wie die Vorgänge des kulturellen Austauschs auf Strategien der Verteilung von Menschen, Gütern und Informationen im Raum angewiesen, das heißt konkret auf diealltäglich notwendige Fixierung von Start und Ziel, von Schwellen und Grenzen, Orten und Wegen. Der Aufbau eines Ganzen aus Ich und Welt ist also ganz und gar vom Gestalten und Finden der Wege abhängig.“5
Wie gesagt: Das Ändern von Wegen ist keine Lappalie. Entsprechend sorgfältig sollte es bedacht werden.
Blick auf den Hauptbahnhof Wien. Photo by Geolina under CC BY-SA 4.0.
Budapest/Bratislava: Daheim unterwegs – unterwegs daheim
Die letzte Station der Magistrale für Europa ist Budapest. Am Endpunkt einer Strecke liegt der Gedanke an das Nachhausekommen nahe, und der hat viel mit Architektur zu tun. Aldo van Eyck war sogar davon überzeugt, dass sich Architektur immer am Prozess des Heimkommens orientieren sollte: “Architecture need do no more, nor should it ever do less, than assist man’s homecoming.” Das klingt zunächst banal, aber tatsächlich geht es in der Architektur – und zwar egal ob Bahnhof oder Ein-Zimmer-Appartement – um viel mehr als um ein Nachhausekommen im Sinne eines Zurückkehrens an den Ort, an dem mehr oder weniger zufällig gerade das eigene Sofa steht. Architektur kann und sollte ein existenzielles Daheim-Sein ermöglichen. Damit greift er eine Erkenntnis auf, die verschiedentlich auch schon von außerhalb der Architektur formuliert wurde. Theodor W. Adorno schreibt 1951 in dem Aufsatz „Asyl für Obdachlose“ aus den Minima Moralia davon, dass man „[…] gar nicht mehr wohnen“ könne, weil weder die traditionelle noch die moderne Architektur geeignet sei, den transzendental obdachlosen Menschen zu behausen. Und so schließt er seinen Essay mit der berühmten fatalistisch-lapidaren Feststellung: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“6 – ein Satz, der die transzendentale Heimatlosigkeit des modernen Menschen mit dem Fehlen einer adäquaten Architektur zwar nicht begründet aber doch zumindest verbindet.
Auch für Martin Heidegger spielt das Wohnen eine zentrale Rolle. Folgt man den Gedanken, die er in Bauen Wohnen Denken (1952) entwickelt, dann hat der moderne Mensch das Wohnen verlernt, wobei er damit ein existentielles Daheim-Sein in einer dem Menschen als Menschen gemäßen Art und Weise meint. So ist der Mensch in einem existentiellen Sinn heimatlos geworden und er könnte erst wieder eine Heimat finden, wenn er das Wohnen wieder erlernt.
„Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, dass die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer wieder suchen, dass sie das Wohnen erst lernen müssen. Wie, wenn die Heimatlosigkeit des Menschen darin bestünde, dass der Mensch die eigentliche Wohnungsnot noch gar nicht als die Not bedenkt?“7 Wenn man diesen Gedanken knapp 70 Jahre später aufgreift, fällt auf, dass der Mensch mehr denn je als heimatlos-getriebener erscheint. Die moderne Geschäftswelt und zunehmend auch die privaten Beziehungen erfordern vielfach ein fast ständiges Unterwegssein. Mobilität ist das Zauberwort. Das gilt in einem ganz praktischen, physischen, aber auch in einem übertragenen, transzendentalen Sinn: Der Mensch ist unterwegs daheim und er ist auch daheim ständig unterwegs.
Auch der Mensch von heute – so scheint es – vermag nicht mehr zu wohnen, zumindest dann nicht, wenn man das Wohnen im Sinne eines existentiellen Verweilens an einem Ort begreift.
Wie bewertet man das? Einerseits positiv: Ein Leben auf Achse hält wach, es schafft Energie, man erlebt Neues und lernt neue Menschen kennen. Außerdem kann man die Qualität des Reisens erleben, zumindest wenn es noch einen Selbstzweck hat und nicht nur ein Hetzen von einem Ort zum anderen ist.
Andererseits ist es negativ: Viele Menschen sehnen sich danach, auch in einem existentiellen Sinn irgendwo zu bleiben, anzukommen, daheim zu sein.
Wie kann Architektur dieses Bedürfnis erfüllen, ohne lediglich sentimentale Zu-Hause Surrogate zu produzieren? Wie kann man im 21. Jahrhundert wohnen? Kann man in einem Bahnhof wohnen?
Antonia Sant Elia, Stazione aus: La Città Nuova, 1914;
Schienen oder Strand?
Am Ende der Reise ist eines klar: Auch unter den Schienen liegt der Strand. Oder, auf TEN Projekt 17, die „Magistrale für Europa“, gemünzt: Auch hinter diesem spröden Titel verbirgt sich der Strand. Der Strand in Form von gesellschaftlichen und individuellen Idealen, Utopien, Bildern und Träumen.
Was aber ist für das Leben der Menschen bedeutsamer, die Oberfläche oder die tiefere Dimension, die funktionalen Aspekte, die offen zu Tage liegen oder der Strand, der unter der Oberfläche verborgen ist?
Wenn die gedankliche Reise von Paris nach Budapest eines zeigt, dann, dass die Frage so falsch gestellt ist. Es geht auch bei Infrastrukturprojekten nicht um ein Entweder-oder sondern um ein Sowohl-als-auch.
Und selbst das reicht nicht aus. Das gute Leben der Menschen braucht alles gleichermaßen: Die Schienen, den Strand und das, was unter dem Strand kommen mag.
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Unter den Schienen der Strand!
Sous les pavés, la plage – Unter dem Pflaster ist der Strand!“ – so haben es die Pariser Studenten 1968 verkündet. Damit spielten sie nicht nur darauf an, dass der sandige Untergrund der Stadt sichtbar wurde, wenn man die Pflastersteine als Wurfgeschosse herausriss; sie forderten auch, die gewohnten Dinge und Sichtweisen radikal und in utopischer Absicht in Frage zu stellen. Fraglos haben sie damit zur Änderung der Gesellschaft beigetragen. Was aber, so könnte man heute fragen, ist eigentlich unter dem Strand? Auf den ersten Blick erscheint diese Frage absurd, ebenso wie der in die Jahre gekommene Studentenslogan. Beide aber verweisen auf eine allgemeine menschliche Erfahrung: Sein und Schein fallen auseinander – den Phänomenen wohnt eine Tiefendimension inne, die auf den ersten Blick nicht erkennbar ist und die bisweilen auch erst erarbeitet und entdeckt werden will. Die deutsche Sprache kennt eine ganze Reihe von Metaphern und anderen sprachlichen Wendungen, die auf diese menschliche Erfahrung verweisen. Von der sprichwörtlichen „Spitze des Eisbergs“ reicht die Bandbreite mit vielen Varianten bis hin zu der Aufforderung ganz „tief zu schürfen“, um auf den „Boden der Tatsachen“ zu gelangen. Auch in die Literatur hat die Erfahrung vielfach Eingang gefunden und von dort wiederum den Sprung in die Alltagssprache geschafft. Sprichwörtlich ist „des Pudels Kern“, der sich als Mephistopheles entpuppt und Faust für dessen Suche nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, seine teuflische Hilfe anbietet. Man muss aber „hinter die Fassade“ blicken und „unter der Oberfläche“ suchen, um zu finden, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.
Auch Bahnhöfe machen da keine Ausnahme: Ist ihre Errichtung scheinbar nur von funktionalen und ökonomischen Erwägungen bestimmt, so offenbaren sie ihre wahre Größe erst unter der Oberfläche – sowohl hinsichtlich der Dimensionen als auch in ihrer Bedeutung für das gute Leben der Menschen.
Das gilt auch für den neuen Münchner Hauptbahnhof – als Gebäude und in seiner Rolle als Teil eines städtischen und transeuropäischen Netzwerks. Tausende Menschen hasten jeden Tag durch das Bauwerk, viele hundert arbeiten darin. Viele innerstädtische Verbindungen kreuzen sich über und unter der Erde, aber auch mehrere europäische Magistralen. Eines dieser transeuropäischen Infrastrukturprojekte ist die Eisenbahnachse Paris-Budapest, die nach Ausbau aller Teilstrecken und Bahnhöfe 35 Millionen Bürger auf einer 1500 Kilometer langen Strecke verbinden soll.1 „TEN Projekt 17“ heißt die Achse in der technokratischen Sprache der EU-Kommission.2 Hinter dieser wenig poetischen Bezeichnung verbergen sich funktionale und ökonomische Aspekte, vor allem aber Bilder und Geschichten aus unseren individuellen und einem gemeinsamen kulturellen Gedächtnis: Es handelt sich um eine kulturelle Tiefendimension, die es zu entdecken gilt: Ist auch unter den Schienen der Strand?
Wie aber kann die kulturelle Tiefendimension eines transeuropäischen Netzwerks heute aussehen? Definitive Antworten auf diese Frage geben zu wollen, wäre vermessen. Man kann aber auf relevante Fragen hinweisen. Einige ergeben sich, wenn man eine gedankliche oder tatsächliche Reise auf TEN Projekt 17, einer „Magistrale für Europa“, unternimmt.
TWA Terminal Eero Saarinen, Photo
by Acroterion. License: CC BY-SA 3.0.
Paris: Kathedralen des Verkehrs
Die Reise beginnt in Paris und schon mit dem Wort „Reise“ öffnet sich ein weiter Bedeutungshorizont. „Reisen“ hat einen sentimentalen Unterton – man reist nicht mehr. Man fährt oder fliegt, aber immer mit Blick auf ein Ziel. Man verreist nicht mehr, man ist auf dem Weg von a nach b. Man macht keine Reise mehr, man macht Urlaub. Man möchte nicht unterwegs sein, man möchte schnell ankommen. In den Verkehrsmitteln wird alles getan, um vom Zustand des Unterwegsseins abzulenken und die damit verbundenen vermeintlichen Strapazen zu lindern: W-LAN, On-Board-Entertainment, Snacks.
Das alles hat unbestreitbar viele Vorteile: Man verliert keine Zeit, man sieht mehr von der Welt, man kann mehr Meetings besuchen, man muss sich nicht langweilen. Es geht aber auch etwas verloren – etwas, das sich nur schwer in einen geldwerten Vorteil umrechnen lässt. Der Selbstzweckcharakter des Reisens geht verloren. Der eigene Wert, den das Unterwegssein auch nach Berücksichtigung eines Sentimentalitätsvorbehalts hat, bleibt gewissermaßen auf der Strecke. Wir reisen nicht mehr – wir kommen an. Ist das eine Bereicherung oder macht uns das ärmer?
Sollen Bahnhöfe das Abfahren und Ankommen möglichst reibungslos organisieren oder können sie mehr sein: Auftakt und Schlussakkord eines Reiseerlebnisses?
Für fast alle Pariser Bahnhöfe wird man konstatieren müssen, dass es sich um machtvolle Akkorde handelt. Hier wurden Kathedralen des Verkehrs errichtet und sie wurden dementsprechend verherrlicht, von Monet beispielsweise die Gare St. Lazare in einer ganzen Serie von 1877. Schon gegen Ende der 1920er Jahre wird der Blick auf die Pariser Bahnhöfe aber melancholisch-nostalgisch, zumindest bei Walter Benjamin:
„Die Gare St Lazare: eine fauchende, pfeifende Fürstin mit dem Blick einer Uhr. Pour notre homme«, sagt Jacques de Lacretelle »les gares sont vraiment des sines de‘reves.« (Le Reveur Parisien N(ouvelle)R(evue) F(rancaise) 1927) Gewiß: heute im Zeitalter des Autos und Flugzeugs sind es nur sachte, atavistische Schrecken, die unter den schwarzen Hallen noch ruhen und jene abgespielte Komödie von Abschied und Wiedersehen, die man vor dem Hintergrunde der Pullmanncars aufführt, macht aus dem Bahnsteig eine Provinzbühne. Noch einmal spielt man uns das abgelebte griechische Melodram: Orpheus, Eurydike und Hermes auf dem Bahnhof. Im Kofferberge unter dem sie steht, wölbt sich der Felsgang, die Krypta in die sie versinkt, wenn der hermetische Schaffner mit der Signalscheibe, die feuchten Blicke des Orpheus suchend, das Zeichen zur Abfahrt gibt. Narben des Abschieds, die wie der Sprung einer griechischen Vase über die dargehaltenen Leiber der Götter zuckt. [L 1,4]“3
So nimmt es nicht wunder, dass im 20. Jahrhundert Flughäfen die Rolle der Kathedralen des Verkehrs übernehmen. Zu Beginn des Jahrhunderts schwärmten Futuristen wie beispielsweise Antonio Sant’Elia von der Geschwindigkeit der stromlinienförmigen Flugzeuge und schon 1935 illustrierten Postkarten Zukunftsvisionen von Stuttgart im Jahre 1940 mit Flugzeug-Parkplatz, Raketenflugzeug-Haltestelle und Zeppelin-Bahnhof.
Einen mächtigen baulichen Ausdruck hat der Flughafen als Kathedrale des Verkehrs auch im TWA Flight-Center von Eero Saarinen von 1962 gefunden. Die Zukunft des 20. Jahrhunderts gehörte den Flugzeugen. Warum aber spricht man hier von Kathedralen des Verkehrs? Zum einen ganz schlicht wegen der Größe der Bauwerke und ihrer im Wortsinn herausragenden Baumassen. Zum anderen aber, weil sie in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft in gewisser Weise die metaphysische Funktion einer Kathedrale übernommen haben. Die Kathedrale hat ihre Bezeichnung von der dort vorhandenen cathedra, dem Bischofssitz. Damit war sie immer ein Machtzentrum in weltlicher, aber auch ein Gravitationszentrum in spiritueller Hinsicht. Das, was eine Stadtgemeinde jenseits des individuellen Strebens nach Glück einte, wurde durch Kathedralen in besonderer Weise symbolisiert: Ein religiöser Glaube mit entsprechenden Vorschriften und Heilsversprechen.
Ein Zitat des Philosophen Ludwig Wittgenstein verdeutlicht diesen Aspekt. Er schreibt ca. 1947:„Architektur verewigt und verherrlicht etwas. Darum kann es Architektur nicht geben, wo nichts zu verherrlichen ist.“4 Wenn Bahnhöfe oder Flughäfen als Kathedralen des Verkehrs bezeichnet wurden und bisweilen immer noch werden, dann deshalb, weil sie einerseits eine Machtdemonstration (der Staaten aber auch von wirtschaftlich potenten Bürgern) sind, andererseits aber auch, weil sie ein Versprechen auf die Zukunft beinhalten, das Menschen vereint und Gemeinschaft stiftet. Es ist das Versprechen von Modernität, wirtschaftlichem Aufschwung, Verbindung und Vereinigung von Ländern (im 19.Jahrhundert mit Blick auf die Idee eines Nationalstaats, im 20. Jahrhundert mit Blick auf eine weltweite Vernetzung). Es ist auch das Versprechen der Teilhabe an einer wirtschaftlich prosperierenden modernen Welt. Es ist die „Verherrlichung“ einer Idee.
Im 21. Jahrhundert mutet es seltsam an, bei Bahnhöfen noch von Kathedralen des Verkehrs zu sprechen. Warum? Welche Gebäude sind heute „Kathedralen“? Museen, Konzerthäuser, Stadien? Was muss ein Bahnhof haben, um zur Kathedrale des 21. Jahrhunderts zu werden? Was kann eine Gesellschaft jenseits des individuellen Strebens nach Glück heute zusammenhalten? Und, wenn sich ein solches gemeinsames Gut tatsächlich noch ausmachen ließe sollte, wie kann es sich in einem Bahnhof wiederfinden? Was kann ein Bahnhof heute jenseits von Konsum und Mobilität symbolisieren? Wie kann er zu einem Gravitationszentrum aus metaphysischer Sicht werden? Was soll ein Bahnhof im 21. Jahrhundert verherrlichen?
Claude Monet, Gare Saint-Lazare, Ankunft
eines Zuges, Öl auf Leinwand, 1877
Straßburg: von der Fragilität der Verbindungen
Wir verlassen Paris. Der Weg führt nach Osten, zunächst durch die Banlieus und dann vorbei an endlosen Ackerflächen, zwischen denen nur hin und wieder kleine Ortschaften auftauchen. Der Zug rast auf zwei schmalen eisernen Linien dahin und bringt mit über 300 km/h in Windeseile Kilometer für Kilometer hinter sich. Die Schienen haben, wie die der meisten mitteleuropäischen Eisenbahnen, eine Spurweite von 1435 mm. Diesem Maß steht bei der europäischen Magistrale eine Strecke von 1.500 km gegenüber. Anders gesagt 0,001.435 km zu 1.500 km bzw. 1435 mm zu 1.500.000.000 mm. Zum Vergleich: 30 cm lange menschliche Haare müssten ca. um den Faktor 250 dünner sein, als sie es sind, um das gleiche Länge/Breite-Verhältnis zu erreichen. Das Europa verbindende Netz ist dünn, erstaunlich dünn. Und es ist verletzlich, genauso wie die freundschaftlichen Bande, die nach 1945 zwischen den europäischen Staaten gewachsen sind. Das macht sowohl die Pflege der Freundschaften als auch die Wartung der Strecke zu einer permanenten Aufgabe.
Besonders deutlich wird dies in Straßburg, der Stadt, die sich als Hauptstadt Europas versteht. Dieses Selbstverständnis hat mit den zahlreichen hier vertretenen europäischen Institutionen zu tun, vor allem aber ist es die lange und oft leidvolle Geschichte zwischen Frankreich und Deutschland, die Straßburg als europäische Stadt par excellence auszeichnet. Hier kann man sehen, wie wenig selbstverständlich das Funktionieren eines grenzüberschreitenden Netzwerks ist – und wie wertvoll.
Ein Dokument des politischen Ringens um Straßburg ist der Bahnhof. 1883 wurde der vom Deutschen Kaiserreich vor allem aus mili-tärischen Gründen initiierte Bau eingeweiht und blieb über hundert Jahre nahezu unverändert, bis er im Jahr 2007 mit einem gewölbten Glas Vorbau „eingehaust“ wurde. Das alte Gebäude erhält dadurch etwas von einem Ausstellungsstück. Vielleicht eine passende bauliche Metapher: Es ist nötig sich an die Geschichte zu erinnern, um die Gegenwart schätzen zu können.
Straßburg, neuer Bahnhof. Photo by
DAVID ILIFF. License: CC BY-SA 3.0.
Stuttgart: nachhaltige Emotionen
Von Straßburg brechen wir auf in Richtung Stuttgart und steuern einen Bahnhof an, der genau wie der, aus dem wir kommen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts für ebendieses mit einem gigantischen Bauprojekt fit gemacht werden soll. Der Kopfbahnhof mit dem von Paul Bonatz von 1914 bis 1928 gebauten Empfangsgebäude wird dabei in einen Durchgangsbahnhof verwandelt, bei dem die Schienen unterirdisch und orthogonal gedreht zu den bisherigen verlaufen. Der sogenannte Bonatz-Bau bleibt zumindest in Teilen erhalten und wird durch eine unterirdische Gleishalle ergänzt.
Bekanntermaßen war und ist das Projekt umstritten, wie vermutlich kein anderer Bahnhof in Europa. Der Konflikt entzündete sich zwischen zwei sehr unterschiedlichen Zukunftsvisionen: Einerseits eine kompromisslos auf die Zukunft ausgerichtete Neugestaltung und andererseits ein Festhalten am Bewährten mit nur sanften Veränderungen. Die Vor- und Nachteile beider Visionen kann man sich unschwer vorstellen: Die radikale Umgestaltung bietet eine, wie es so schön heißt, „verkehrstechnische Optimierung“ aber eben auch hohe Kosten und hohe Risiken. Bei der sanften Umbauvariante ist alles ein Stück kleiner: die angestrebte Optimierung ist dann eben nur eine Verbesserung und Kosten und Risiken nicht so hoch. Nach langen und intensiven Auseinandersetzungen hat man sich auf einen Kompromiss geeinigt und baut. Unabhängig vom Ausgang des Streites und der Qualität der gefundenen Lösung bleiben zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen die immense emotionale Reaktion, die Stuttgart 21 als ein vermeintlich nur anhand nüchterner Zahlen zu bewertendes Infrastrukturprojekt hervorgerufen hat. Verständlich ist diese nur, wenn man die, bereits erwähnten tieferen Dimensionen einer Bedeutung für das gute Leben der Menschen, die Bahnhöfen und Schienennetzen innewohnen, berücksichtigt. Zum anderen ist auffällig, dass im Konflikt um die Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart von beiden Seiten mit Verweis auf die größere Nachhaltigkeit der eigenen Vorstellungen argumentiert wurde. Tatsächlich gehört die Forderung nach Nachhaltigkeit heute zu den Standardforderungen, die an Architektur und Stadt gestellt werden und sie gilt zumal für große Infrastrukturprojekte. Nachhaltigkeit ist eine in Raum und Zeit ausgeweitete Gerechtigkeitsforderung. Es geht nicht mehr nur darum, ein direktes Gegenüber gerecht zu behandeln; unser Handeln soll auch gerecht gegenüber den Interessen nachfolgender Generationen und gerecht gegenüber Menschen auf der ganzen Welt sein, die unmittelbar oder mittelbar von unserem Handeln betroffen sind. Es stellt sich allerdings die Frage, wie dieses abstrakte ausgeweitete Gerechtigkeitsideal umgesetzt und konzeptualisiert werden kann. In den 90er und 10er Jahren wurde in der Architektur dafür vielfach das Säulen-Modell propagiert, gemäß dem unser Handeln gleichermaßen auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene zukunftsverträglich sein soll. In der Umweltethik wurde dieses Modell wegen offensichtlicher Mängel (die Gleichwertigkeit der Ebenen ist nicht gegeben: Ökonomie ist Teil des Sozialen und dieses ist von einer funktionierenden Ökologie abhängig) kritisiert und durch andere Vorstellungen ersetzt, zum Beispiel durch das so genannte Leitplanken Modell. Demnach sind Effizienz, Resilienz und Suffizienz als „Leitplanken unseres Handelns“ für einen nachhaltigen Lebensstil wichtig. Für die Architektur bedeutet das eine Verschiebung der Aufmerksamkeit. Der effiziente Einsatz von Ressourcen sollte heute auch im Bereich der Architektur weitgehend eine Selbstverständlichkeit sein.
Daneben ist aber auch die Resilienz, also die Systemstabilität (bzw. die Fähigkeit des Systems Gebäude mit Störungen umzugehen), von entscheidender Bedeutung für eine langfristige Nutzung von Architektur.
Und auch die Frage nach einem angemessenen Lebensstil muss im Kontext der Architektur gestellt werden, auch wenn damit heikle moralische und politische Probleme, die die Freiheit des Einzelnen betreffen, verbunden sind.
In jedem Fall haben die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 aber gezeigt: Die Gestaltung von Bahnhöfen ist heute immer noch im innersten Kern die Frage nach einem angemessenen Lebensstil. Und es ist eine Aufgabe, die Menschen fundamental angeht, bewegt und emotional aufwühlt. Daraus ergibt sich zumindest der Imperativ einer sorgfältigen und qualitätvollen Gestaltung, die sich nicht in der Erfüllung funktionaler Aspekte erschöpft.
Wir verlassen Stuttgart in Richtung München und erklimmen die Schwäbische Alb über die legendäre Geislinger Steige. Dank der spektakulären Ausblicke und der gedrosselten Geschwindigkeit ist dies selbst im modernsten ICE oder TGV ein geradezu nostalgisch romantischer Eisenbahnmoment. Ein Moment jedoch, der in wenigen Jahren auf der Magistrale für Europa nicht mehr zu erleben sein wird. Statt mit 70 km/h über den Berg, werden die Züge dann mit 250 km/h durch einen Tunnel rauschen. Schönheit geht verloren, Zeit wird gewonnen.
Stuttgart 1940, Postkarte ca. 1935
München: Für wen wird gebaut?
Auch in München kommt der Reisende auf einer Baustelle an. Es entsteht ein neues Empfangsgebäude mit Anschluss an die vorhandene und eine neue S-Bahn-Röhre. Mit letzterer wiederum werden die bestehenden Tunnel für U-Bahnen ergänzt und die zahlreichen oberirdischen Verbindungen von Trambahnen und Bussen komplettiert. Alles in allem ein immenser und immens komplexer Eingriff zur Optimierung des Verkehrsflusses am Knoten München. Bauherr des Münchner Bahnhofs ist die Deutsche Bahn. Aber ist es nicht auch die Gesellschaft, die hier baut? Nicht, weil die deutsche Bahn im Besitz des Bundes ist, sondern, weil Bahnhofsgebäude in ihrer Bedeutung viel größer sind als die Summe der funktionalen Aspekte. Ist es vielleicht das, was in Stuttgart vergessen wurde? Wenn aber Bahnhöfe nicht nur für eine Verkehrs-Gesellschaft, sondern für die Gesellschaft gebaut werden, haben dann nicht Bauherr und Architekt auch ihr gegenüber Verantwortung? Geht es nur darum, 20.000 oder 30.000 Körper pro Stunde im Trockenen und möglichst schnell von A nach B zu bringen, oder geht es um mehr? Womöglich sogar um viel mehr? Was kann ein Bahnhof heute zum guten Leben beitragen? Muss ein Bahnhof nicht auch Reiseerlebnisse ermöglichen mit poetischen Momenten, Begegnungen, Gesprächen und ästhetischen Erfahrungen? Und selbst, wenn er das tut, reicht das aus? Sollte es nicht auch darum gehen, eine gebaute Idee zur Zukunft der Gesellschaft zu formulieren? Im 19. Jahrhundert war das der Fall, aber heute? Bisweilen scheint es, als habe die Architektur zwar vielleicht noch nicht die Kraft zur Sorge um den Einzelnen aber doch die Kraft zur Formulierung gesellschaftlicher
Visionen verloren. Kann ein Bahnhof hier etwas ändern? Kann ein einzelnes Gebäude etwas ändern? Ist es nicht eigentlich die Sorge um den Einzelnen und um die Gesellschaft auf die es in der Architektur ankommt?
Hauptbahnhof München, Starnberger
Flügelbahnhof, Vorplatz, Auer Weber
Wien: Neue Wege
Schon seit 2015 hat Wien, die nächste Station der Magistrale, einen neuen Bahnhof. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt fungiert dieser als Hauptbahnhof und damit als zentraler Verbindungspunkt für den Fernverkehr. Hier wurden Wege verändert und neu geschaffen. Man nähert sich der Stadt anders, man verlässt sie auf neuen Routen. Mit neuen Wegen ändern sich auch die Bilder. Es sind jetzt neue Bilder, die sich die Einwohner und die Besucher von Wien und sich selbst in Wien machen. Das ist keine Lappalie, insbesondere nicht in Hinblick auf das kulturelle Gedächtnis und die Identität einer Stadt. Wolfgang Meisenheimer hat die Bedeutung von Wegen für Menschen und Architektur folgendermaßen beschrieben:
„Es ist die Raum und Zeit verbindende Struktur der Wege und Wegsysteme, die seit Jahrtausenden das leben- und kulturzeugende Potential der Architektur in Erscheinung treten lässt. Die linearen Verknüpfungen der Orte sind ja nicht nur als szenische Darstellungen des Vertrauten lesbar, als geronnenes Material vergangener Zeit, sondern auch als Handlungsanweisungen und Zeichenvorrat, angelegt zur Eroberung einer unbekannten, erst noch zu leistenden Zukunft. Die großen Städte können – wie alles Gebaute – als Kristallisationen spezifischer Kultur an Wegen und Straßen, Bahnstrecken und Flugschneisen verstanden werden. Die gebauten Dinge sind ihrerseits durchsetzt von Wegen, Fluren, Treppen, Durchgängen, Schwellen und Brücken –, also in Architektur übersetzten Elementen jenes topologischen Systems, das Wahrnehmungsraum, Gesellschaftssystem, Zivilisation, alles in allem die räumliche Ausbreitung des Lebens strukturiert. Sind doch die organischen Abläufe wie die Vorgänge des kulturellen Austauschs auf Strategien der Verteilung von Menschen, Gütern und Informationen im Raum angewiesen, das heißt konkret auf diealltäglich notwendige Fixierung von Start und Ziel, von Schwellen und Grenzen, Orten und Wegen. Der Aufbau eines Ganzen aus Ich und Welt ist also ganz und gar vom Gestalten und Finden der Wege abhängig.“5
Wie gesagt: Das Ändern von Wegen ist keine Lappalie. Entsprechend sorgfältig sollte es bedacht werden.
Blick auf den Hauptbahnhof Wien.
Photo by Geolina under CC BY-SA 4.0.
Budapest/Bratislava: Daheim
unterwegs – unterwegs daheim
Die letzte Station der Magistrale für Europa ist Budapest. Am Endpunkt einer Strecke liegt der Gedanke an das Nachhausekommen nahe, und der hat viel mit Architektur zu tun. Aldo van Eyck war sogar davon überzeugt, dass sich Architektur immer am Prozess des Heimkommens orientieren sollte: “Architecture need do no more, nor should it ever do less, than assist man’s homecoming.” Das klingt zunächst banal, aber tatsächlich geht es in der Architektur – und zwar egal ob Bahnhof oder Ein-Zimmer-Appartement – um viel mehr als um ein Nachhausekommen im Sinne eines Zurückkehrens an den Ort, an dem mehr oder weniger zufällig gerade das eigene Sofa steht. Architektur kann und sollte ein existenzielles Daheim-Sein ermöglichen. Damit greift er eine Erkenntnis auf, die verschiedentlich auch schon von außerhalb der Architektur formuliert wurde. Theodor W. Adorno schreibt 1951 in dem Aufsatz „Asyl für Obdachlose“ aus den Minima Moralia davon, dass man „[…] gar nicht mehr wohnen“ könne, weil weder die traditionelle noch die moderne Architektur geeignet sei, den transzendental obdachlosen Menschen zu behausen. Und so schließt er seinen Essay mit der berühmten fatalistisch-lapidaren Feststellung: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“6 – ein Satz, der die transzendentale Heimatlosigkeit des modernen Menschen mit dem Fehlen einer adäquaten Architektur zwar nicht begründet aber doch zumindest verbindet.
Auch für Martin Heidegger spielt das Wohnen eine zentrale Rolle. Folgt man den Gedanken, die er in Bauen Wohnen Denken (1952) entwickelt, dann hat der moderne Mensch das Wohnen verlernt, wobei er damit ein existentielles Daheim-Sein in einer dem Menschen als Menschen gemäßen Art und Weise meint. So ist der Mensch in einem existentiellen Sinn heimatlos geworden und er könnte erst wieder eine Heimat finden, wenn er das Wohnen wieder erlernt.
„Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, dass die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer wieder suchen, dass sie das Wohnen erst lernen müssen. Wie, wenn die Heimatlosigkeit des Menschen darin bestünde, dass der Mensch die eigentliche Wohnungsnot noch gar nicht als die Not bedenkt?“7 Wenn man diesen Gedanken knapp 70 Jahre später aufgreift, fällt auf, dass der Mensch mehr denn je als heimatlos-getriebener erscheint. Die moderne Geschäftswelt und zunehmend auch die privaten Beziehungen erfordern vielfach ein fast ständiges Unterwegssein. Mobilität ist das Zauberwort. Das gilt in einem ganz praktischen, physischen, aber auch in einem übertragenen, transzendentalen Sinn: Der Mensch ist unterwegs daheim und er ist auch daheim ständig unterwegs.
Auch der Mensch von heute – so scheint es – vermag nicht mehr zu wohnen, zumindest dann nicht, wenn man das Wohnen im Sinne eines existentiellen Verweilens an einem Ort begreift.
Wie bewertet man das? Einerseits positiv: Ein Leben auf Achse hält wach, es schafft Energie, man erlebt Neues und lernt neue Menschen kennen. Außerdem kann man die Qualität des Reisens erleben, zumindest wenn es noch einen Selbstzweck hat und nicht nur ein Hetzen von einem Ort zum anderen ist.
Andererseits ist es negativ: Viele Menschen sehnen sich danach, auch in einem existentiellen Sinn irgendwo zu bleiben, anzukommen, daheim zu sein.
Wie kann Architektur dieses Bedürfnis erfüllen, ohne lediglich sentimentale Zu-Hause Surrogate zu produzieren? Wie kann man im 21. Jahrhundert wohnen? Kann man in einem Bahnhof wohnen?
Antonia Sant Elia, Stazione aus:
La Città Nuova, 1914;
Schienen oder Strand?
Am Ende der Reise ist eines klar: Auch unter den Schienen liegt der Strand. Oder, auf TEN Projekt 17, die „Magistrale für Europa“, gemünzt: Auch hinter diesem spröden Titel verbirgt sich der Strand. Der Strand in Form von gesellschaftlichen und individuellen Idealen, Utopien, Bildern und Träumen.
Was aber ist für das Leben der Menschen bedeutsamer, die Oberfläche oder die tiefere Dimension, die funktionalen Aspekte, die offen zu Tage liegen oder der Strand, der unter der Oberfläche verborgen ist?
Wenn die gedankliche Reise von Paris nach Budapest eines zeigt, dann, dass die Frage so falsch gestellt ist. Es geht auch bei Infrastrukturprojekten nicht um ein Entweder-oder sondern um ein Sowohl-als-auch.
Und selbst das reicht nicht aus. Das gute Leben der Menschen braucht alles gleichermaßen: Die Schienen, den Strand und das, was unter dem Strand kommen mag.